Radpilgertour an der Elbe
Auf den Spuren Martin Luthers
Montag, 16. September: Magdeburg
Bereits um 11.50 Uhr traf unsere Pilgergruppe aus Hildesheim mit dem Regionalzug in Magdeburg ein. Die Fahrt hatte etwa zweieinhalb Stunden gedauert. Die Fahrräder konnten im Zug gut verstaut werden, mit dem Gepäck tat sich die Jungengruppe allerdings noch etwas schwer. Natürlich hätten alle Satteltaschen im Zug abgenommen werden müssen. Aber es war Montagmorgen und nicht Freitagnachmittag und kein Schaffner verlangte das Unmögliche. Immerhin: Unsere Fahrkarten und Fahrradkarten wurden kontrolliert. Beinahe die Hälfte der Gruppe hatte ein Deutschlandticket. Die Jugendherberge in Magdeburg liegt gerade einmal 600 Meter vom Bahnhof entfernt, und da wir nahezu alle Zimmer bereits beziehen konnten, war vor der Domführung um 14.00 Uhr noch Zeit für eine Mittagspause. Nahezu alle 12 Schüler trafen pünktlich um 13.45 Uhr vor dem Nordportal des Magdeburger Domes ein. Noch vor Beginn der Führung durch Frau Opitz konnte ein erstes Gruppenfoto geschossen werden. Erste Informationen über die Geschichte des Dombaus und das ottonische Herrschergeschlecht im 10. Jahrhundert sollten hier der großen Ahnungslosigkeit entgegenwirken, denn Frau Opitz war dafür bekannt, dass sie von den Schüler:innen einer bischöflichen Schule nicht nur Kenntnisse in der Geschichte, sondern auch in den Alten Sprachen erwartete.
In der beinah zweistündigen Domführung wurden die Jungen mit allen Details konfrontiert: Otto der Große (912-973) wurde nach dem Tod seines Vaters Heinrich nach vorausgegangener Akklamation im Jahr 937 auf dem Reichstag in Magdeburg zum König gekrönt. Als junger Prinz hatte er sieben Jahre zuvor die englische Prinzessin Edgith von Wessex geheiratet. Sie war die ältere von zwei Schwestern. Nach dem Sieg über die Ungarn mit der Entscheidungsschlacht auf dem Lechfeld 955 - die Mauritiuslanze wurde der Legende nach zum Sieghelfer - wurde Otto im Zuge seines Italienzuges im Jahr 962 in Rom von Papst Johannes XII. zum ersten Römischen Kaiser Deutscher Nation erhoben. Der Dom selbst, der 930 - noch als Mauritiuskloster - der jungen Königin im Zuge der Hochzeit als Wittum übereignet wurde, wurde nun als romanischer Dom ausgebaut. Da die Königin 33-jährig bereits 946 verstarb und in der Klosterkirche begraben wurde, erhielt sie mit dem Dombau vermutlich auch eine neue Grablege. Im Jahr 951 heiratete Otto Adelheid von Burgund. Allein Ottos und Edgiths Grab befinden sich heute im Magdeburger Dom. Der romanische Dom war allerdings im Jahr 1207 nahezu vollständig abgebrannt und wurde als erster gotischer Dom auf deutschem Boden im 13. Jahrhundert neuerrichtet. Im Jahr 1363 wurde er den beiden hl. Schutzpatronen Mauritius und Katharina geweiht. Die Fertigstellung dauerte jedoch insgesamt etwa 300 Jahre. Die beiden Westtürme mit einer Turmhöhe von ca. jeweils 100 Metern kamen in der letzten Bauphase bis 1520 dazu. Der Dom hat beeindruckende Maße: Im Inneren ist er 120 Meter lang und 37 Meter breit. Das Gewölbe ist 32 Meter hoch. Der Westeingang der Kirche wurde im 16. Jahrhundert verschlossen und wird heute lediglich zu besonderen Anlässen oder in der Osternacht geöffnet. Im Mittelpunkt der Führung standen der ägyptische Brunnen aus Porphyr, der über Italien nach Magdeburg kam und hier als Taufbecken genutzt wurde; die Kanzel aus dem 13. Jahrhundert; zahlreiche Figuren der Hl. Katharina und des Hl. Mauritius; der Kreuzgang mit der noch erhaltenen Südfassade des romanischen Doms; der Hochchor mit dem Epitaph Otto des Großen; die Mauritiuslanze - hier als Kopie - , die der Legende nach auf die Longinuslanze zurückgeht, mit der Christus durchbohrt wurde; das mittelalterliche Chorgestühl und der moderne Chorleuchter mit dem himmlischen Jerusalem; der um 1500 aus Sandstein gefertigte Sarkophag Edgiths im Chorumgang; die Paradiesvorhalle und -pforte mit dem Tympanon und dem Figurenensemble, das den klugen Jungfrauen die Ekklesia und den törichten Jungfrauen die Synagoge zuordnet; die Barlach-Installation von 1929 im nördlichen Querhaus, die sich gegen jede Form von Krieg wendet; schließlich die um 1250 fertiggestellte sechzehneckige Hl.-Grab-Kapelle mit dem Herrscherehepaar, die jedoch auch Christus und die Ekklesia abbilden könnten.
Es war schon erstaunlich, dass Frau Opitz, die noch in Kriegszeiten geboren wurde, den Umbruch von 1990 in diesem Jahr nicht thematisierte. Sie hatte in der DDR vor 1990 Karriere gemacht und stand wie viele andere Bürger der DDR, die vom System profitiert hatten, vor dem Nichts. Am Ende haben die Schüler für ihr Mitdenken weiteres Informationsmaterial und Süßigkeiten bekommen.
Der Weg aus dem Dom führte uns über den Domplatz und die Grüne Zitadelle auf die Breite Straße und von dort zum Alten Markt. Der Hundertwasserbau aus dem Jahr 2005, den der österreichische Künstler konzipierte, jedoch seine Fertigstellung selbst nicht mehr erlebte, ist trotz anfänglicher Kritik heute zu einem Wahrzeichen Magdeburgs geworden. Das Gebäude enthält Wohnungen und Geschäfte, einen Hotelbetrieb, eine Gastronomie und eine Kindertagesstätte. 171 Bäume, 262 Gehölze, zahllose Stauden und Blumen sind auf den verschiedenen Dachflächen angepflanzt. Der Wohnturm hat zehn Stockwerke und ist 35 Meter hoch. Auf dem Turm sind drei goldene Kugeln angebracht. Kein Fenster gleicht dem anderen. Die Etagenböden sind uneben. Die Fassade ist in leuchtenden Farben gestaltet und wird von Ziegelstreifen durchzogen, die in Zinnen enden. Der Bau ist ein einziges Kunstwerk. Der Alte Markt ist neben dem Dombezirk das zweite Siedlungszentrum in Magdeburg. Mit dem Rathaus und den Bürgerhäusern am Marktplatz stellt es das bürgerliche Pendant zur geistlichen Herrschaft in Magdeburg dar. Das Verhältnis im Mittelalter war durchaus konfliktreich. Ausdruck dessen ist der Lynchmord an Erzbischof Burchard III. im Ratskeller des Rathauses im Jahr 1325. Das heutige (alte) Rathaus hat Ende des 17. Jahrhunderts eine Barockfassade erhalten und wurde 1974 mit einem Glockenspiel ausgestattet. An dieser Stelle hatte Mitte des 13. Jahrhunderts das erste Magdeburger Rathaus gestanden. Der Magdeburger Roland an der Nordseite des Rathauses war bereits im 14. Jahrhundert Ausdruck der selbstbestimmten und wehrhaften Bürgerschaft. Die heutige Figur aus dem Jahr 2005 ist vier Meter hoch und trägt Harnisch, Kniehose und ein hölzernes Schwert. Interessant sind die modernen Bronzetüren des Rathauses, die der Hildesheimer Bernwardstür ähneln. Sie zeigen Ereignisse und Personen aus der Magdeburger Stadtgeschichte: So etwa Eicke von Repkow, den Verfasser des mittelalterlichen Rechtskodexes „Sachsenspiegel“; Till Eulenspiegel, der vorgab, vom Rathauserker über den Marktplatz fliegen zu wollen; den Magdeburger Chirurg Doktor Eisenbarth (1663-1727) und den in Magdeburg geborenen Physiker und Erfinder Otto von Guericke (1602-1682). Im Mittelpunkt des Marktplatzes steht der Magdeburger Reiter. Vermutlich ist er das erste freistehende Reiterdenkmal nördlich der Alpen. Das Denkmal wurde um 1240 errichtet und zeigt Kaiser Otto I. als königliche Reiterfigur. Zwei Frauenfiguren - Edgith und Adelheid - begleiten ihn. Sie sind mit den kaiserlichen Hoheitssymbolen ausgestattet: Schild mit Reichsadler und Fahnenlanze. Die bronzene Reiterfigur wurde im Jahr 2000 vergoldet. Hier am Alten Markt endete der kleine Stadtrundgang und die Schüler machten sich von hier aus in Gruppen auf den Weg. Nach der Abendrunde am Skulpturenbrunnen vor der Jugendherberge kehrten wir zum Abendessen in einer italienisch geführten Gastronomie ein. Die Pizzen hatten einen Durchmesser von 49 Zentimeter. Es ist erstaunlich, dass einzelne Jungen sogar zwei Pizzen verdrücken konnten. Pizza blieb in diesen Tagen das Hauptnahrungsmittel am Abend.
Dienstag, 17. September: Von Magdeburg nach Dessau
Der Aufbruch am Morgen begann mit einer Verspätung von 15 Minuten. Nach dem Segensgebet für die bevorstehende Fahrt mit den Fahrrädern an der Elbe machten wir uns als Pilgergruppe auf den Weg. Sehr schnell wurde deutlich, dass das Fahrradtempo zwischen den Gruppenmitgliedern sehr unterschiedlich war, sodass die Schüler zu den vereinbarten Zwischenstationen in Gruppen unterwegs waren. Heute lag eine Strecke von etwa 80 Kilometern vor uns - für einige Gruppen dürften es deutlich mehr Kilometer gewesen sein, da sie sich mit ihrem Navi im Waldgelände verfuhren. Immerhin der Elbradweg konnte vorschriftsmäßig befahren werden. Das Elbwasser stieg stündlich und so waren alle Radfahrgruppen froh, rechtzeitig - bevor die Fähre ihren Fahrdienst gegen 17.00 Uhr einstellte - mit der Gierfähre über die Elbe gesetzt zu haben: Zunächst am Mittag bei Barby und dann am frühen oder späten Nachmittag - je nach Gruppe - bei Aken.
Alle Radpilger kamen mit unterschiedlichem zeitlichen Abstand an der Jugendherberge in Dessau an. Viele waren von den Strapazen des Tages gezeichnet. Die Abendrunde nach dem Abendessen machte deutlich, dass für sportliche Betätigungen auf der Anlage der Jugendherberge, etwa Volleyball zu spielen, keine Ressourcen mehr vorhanden waren. Einige liefen noch zum Elbufer, mussten allerdings desillusioniert mit Mückenstichen zur Herberge zurückkehren.
Mittwoch, 6. September: Wittenberg
Nahezu pünktlich um 9.00 Uhr am Morgen war unsere Pilgergruppe abfahrbereit. Wir hatten uns nach dem Frühstück vor dem Fahrradschuppen zum Tagesgebet versammelt. Die heutige Fahrstrecke betrug gerade die Hälfte der gestrigen. Die etwa vierzig Kilometer waren gut zu schaffen. Allerdings hatten wir bereits um 14.30 Uhr eine Führung am Lutherhaus in Wittenberg durch die dortige Sonderausstellung „Buchstäblich Luther“ gebucht. Zunächst musste die Mulde überquert werden, um den Elbradweg auf der linken Elbseite - oder gegen die Flussrichtung auf der rechten Seite - zu nehmen. Durch den umfassenden Deichbau war diese Fahrseite nicht vom Hochwasser betroffen. Jenseits der Deiche breitete sich die Elbe in der Marsch aus, beinah so, als wäre es ein Naturschauspiel. Die erste Zwischenstation war Wörlitz. Gegen 10.40 Uhr erreichten wir die Stadtkirche St. Petri. Hier vor dem Eingangsportal der Kirche stellten wir unsere Fahrräder ab und schossen auf der Rückseite der Kirche ein Gruppenfoto. Die Kirche öffnete erst um 11.00 Uhr. Mit einem der Jungen fuhr ich zum Fahrradhändler, um sein kaputtes Pedal auszutauschen. Das klappte zum Glück ohne Zeitverzögerung, während der Rest der Gruppe die neugotische Stadtkirche besichtigte: Den formschönen Lettner, die zwei Emporen aus Eichenholz und den 66 Meter hohen Kirchturm. Die einheitliche Farbgestaltung mit der Akzentuierung von Taufbecken und Altar war beeindruckend.
In diesem Jahr blieben wir nach der Besichtigung der Kirche auf dieser Elbseite. Die einzelnen Gruppen nahmen wieder Fahrt auf und erreichten die Jugendherberge in Wittenberg - über den Fahrradweg an der B2 jenseits der Elbe - schon am Mittag. Erneut hatten wir Glück und konnten schon die Zimmer beziehen. So war vor der Führung noch Zeit für eine Pizza oder ein Eis. Die Jugendherberge ist ein ehemaliger Teil des Wittenberger Stadtschlosses. In der Schlosskirche lagerte im 16. Jahrhundert die große Reliquiensammlung des Kurfürsten mit etwa 9000 Reliquien. Luther hatte an der Außenseite des Portals der Schlosskirchentür seine 95 Thesen anbringen lassen, die er am Vortag vor Allerheiligen per Druck an verschiedene Kirchenfürsten - so natürlich auch an Albrecht von Magdeburg, der sich gleich mehrere Bistümer einverleibt hatte - sandte.
Um 14.00 Uhr trafen wir uns vor der Schlosskirche, um einmal quer durch die Altstadt auf der Schloss- und Collegienstraße zum Lutherhaus zu schlendern. Der Weg zum Lutherhaus führte am Marktplatz und der Stadtkirche St. Marien vorbei. Wir passierten den Cranach-Hof mit der Werkstatt im Inneren und die Universität Leucoria. Ausgangspunkt für die Führung durch die Sonderausstellung war das Katharinenportal, das Katharina ihrem Mann im Jahr 1540 zum Geburtstag mit der Auflage schenkte, dass er sich an jedem Abend eine halbe Stunde Zeit zum Gespräch mit ihr nehmen sollte. Katharina war die treibende Figur im Lutherhaus. Sie organisierte das Haus, sorgte dafür, dass die Einkünfte, z.B. aus den Mieten der im Haus wohnenden Studenten, stimmten und war für die Erziehung der gemeinsamen Kinder zuständig: Margarete, Elisabeth, Magdalena, Johannes, Paul und Martin. Luther selbst war in der Lutherstube mit den verschiedenen Schreibarbeiten beschäftigt: Der Korrespondenz, der verschiedenen reformatorischen Schriften und Kirchenlieder sowie der Übersetzung des Alten Testaments in die deutsche Sprache. Das Neue Testament hatte er bereits 1521/1522 auf der Wartburg übersetzt, bevor er trotz Reichsacht unter dem Schutz des Kurfürsten nach Wittenberg zurückkehren konnte. Da das Lutherhaus gerade energetisch saniert wurde, führte uns die Ausstellung durch ein Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite des Augustaneums, der ehemaligen Klosteranlage.
Nahezu alle transportablen Exponate waren in der Sonderausstellung zu sehen: Verschiedene Gemälde und Flugblätter zur Reformation; die Originalportraits von Lucas Cranach dem Älteren, der sowohl den Kurfürsten Friedrich den Weisen, als auch Luther, dessen Eltern und Katharina sowie einige weitere Reformatoren, darunter den Wittenberger Gefährten und Freund Johannes Bugenhagen, portraitierte; die Kanzel, von der Luther ab 1514 in der Stadtkirche St. Marien aus predigte; die Lutherstube wurde medial in einer 3-D-Show mit mehreren Beamern nachgestellt - ein eigens hierfür hergerichteter erschuf diese Illusion. Für die Schüler war dies imposant, jedoch wurde die Mitmachstation, die verschiedene Wortschöpfungen Luthers dokumentierte, von ihnen weit intensiver in Beschlag genommen. Hier wurde Luthers Sprachbegabung und Ausdrucksstärke sichtbar. Weitere Exponate sind: Die Ablasstruhe, eine Truhe als erste „Sozialkasse“, ausgestellte Streitschriften Luthers, ein Gesangbuch mit dem Lutherchoral „Eine feste Burg ist unser Gott“ und die erste Ausgabe einer deutschsprachigen Gesamtbibel. Die Führung durch die Sonderausstellung dauerte etwa eine knappe Stunde.
Anschließend besuchten wir gemeinsam die Stadtkirche St. Marien und danach die Schlosskirche. Die Schüler mussten hier jeweils keinen Eintritt zahlen. Die Stadtkirche St. Marien stammt in ihren ältesten Teilen aus dem 13. Jahrhundert. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurde sie zu einer dreischiffigen, beinahe quadratischen Hallenkirche umgebaut. Das Westportal wurde nach aufwändigen Restaurierungsarbeiten im Jahr 2015 freigegeben. Auf der gegenüberliegenden Ostseite befindet sich der Reformationsaltar aus der Cranach-Werkstatt - heute wird er Lucas Cranach dem Jüngeren zugeschrieben. Luthers reformatorische Lehre wird hier ins Bild gesetzt. Das Gemälde in der Predella, oberhalb des Altares, zeigt Martin Luther als Prediger, der auf den gekreuzigten Christus zwischen ihm und der Gemeinde verweist.
Nach der Besichtigung der Stadtkirche führte uns der weitere Weg zum Cranach-Hof. Lucas Cranach der Ältere (1472-1553) stand seit 1505 im Dienst des Kurfürsten Friedrich des Weisen. Als Hofmaler erhielt er ein Jahreseinkommen von etwa 100 Gulden, so viel, wie auch ein Professor der Universität verdiente. Der Meister leitete den Werkstattbetrieb als eine Art „Artdirektor“. Im Jahr 1553 folgte er dem Kurfürsten nach Weimar und verstarb dort. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof der St. Jacobikirche in Weimar. Wie auch sein gleichnamiger Sohn wurde Lucas Cranach mehrfach zum Bürgermeister von Wittenberg gewählt. Lebenslauf und Konterfei sind im Eingang des Cranach-Hofes ausgestellt. Vor der Werkstatt befindet sich seit 2005 die lebensgroße Bronzeplastik von Lucas Cranach. Der Gebäudekomplex präsentiert seit 2007, der Erhebung des Gebäudes zum Kulturdenkmal, die Dauerausstellung „Cranachs Welt“. Lucas Cranach der Jüngere (1515-1586), der hier geboren wurde, setzte die Arbeit seines Vaters in der Malwerkstatt fort. Er erhielt auch umfangreiche Auftragsarbeiten von anderen Fürstenhöfen. Seine künstlerischen Fähigkeiten stellte er in den Dienst der Reformation und ihrer Programmatik. Lucas Cranach der Jüngere verstarb 1586 in Wittenberg. Sein Grabmal befindet sich in der Stadtkirche St. Marien vor der Empore des südlichen Pfeilers. Der Rückweg zur Jugendherberge führte uns in die Schlosskirche mit den Gräbern und Epitaphen von Luther, Melanchton und Kurfürst Friedrich dem Weisen. Die Schlosskirche ist aus einer ehemaligen Stiftskapelle des 14. Jahrhunderts hervorgegangen, bevor Friedrich der Weise sie Anfang des 16. Jahrhunderts als repräsentative Fürstenkirche umbaute. Der Kirchenbau verschlang über 32000 Gulden. Die innere Ausstattung ist noch heute sehr prächtig, so etwa der von Lucas Cranach geschaffene Hauptaltar mit einer Darstellung der Hl. Dreifaltigkeit. Während des Siebenjährigen Krieges wurde die Kirche im Jahr 1760 beschossen und brannte aus. Nur wenige Ausstattungsstücke konnten geborgen werden. Die Thesentür war ebenfalls verbrannt und wurde im Zuge des Wiederaufbaus ersetzt. Die Schlosskirche wurde 1770 neu geweiht. In den Befreiungskriegen gegen Napoleon wurde sie jedoch ein weiteres Mal zerstört und anschließend wiederaufgebaut. Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Kirchturm auf etwa 88 Meter aufgestockt und in etwa 50 Metern Höhe wurden 720000 Mosaiksteine angebracht. Sie verkünden den ersten Vers des Luther-Chorales: „Eine feste Burg ist unser Gott, ein´ gute Wehr und Waffen“. Nach dem Abendessen und der Abendrunde verbrachten die Schüler den Abend in Wittenberg. Die Gasthäuser hatten jedoch schon früh geschlossen.
Donnerstag, 19. September: Torgau
Ein neuer Morgen begann um 8.00 Uhr mit dem Frühstück in der Jugendherberge. Heute würden wir mit knapp 80 Kilometern die zweitlängste Pilgerfahrradstrecke in Angriff nehmen. Unser Ziel: Torgau. Zunächst hieß dies, die Fahrräder zu satteln und nach dem Tagesgebet Abschied von der Schlosskirche und ihrem imposanten Kirchturm zu nehmen. Der Himmel war wolkenlos und die Sonne wärmte bereits am Morgen. Alles hätte gut sein können, wäre nicht das Elbhochwasser, das jede Überquerung der Elbe bis Torgau unmöglich machte. Da der Elbradweg an einigen Stellen noch nicht gesperrt war, fuhr die erste Gruppe direkt in das Wasser, allerdings ist kein Schüler wirklich nass geworden. Auch hier zeigte sich nach der Zwischenstation in Elster - der Ort konnte nur über Umwege mit dem Fahrrad erreicht werden -, dass das Fahrtempo sehr unterschiedlich war. Es bildeten sich vier Gruppen, die in Eigenregie den Weg jenseits der Elbe durch die Dörfer, die Wiesenlandschaft und Wälder nahmen. Eine Gruppe machte dann unterwegs in einer Bäckerei Station und fand sich wenig später am Rande eines Militärgebietes wieder. Mit dem Navi ist das so eine Sache, denn hier wird lediglich die kürzeste Radfahrstrecke angezeigt, unabhängig davon, ob der Straßenbelag auch geeignet ist. So erreichten schließlich alle vier Gruppen nach Überqueren der Elbbrücke an der B87, die einen geeigneten Radweg aufwies, Torgau. Hier hatten sich im April 1945 Russen und US-Amerikaner von beiden Seiten der Elbe kommend getroffen.
Die Jugendherberge in Torgau ist erst vor eineinhalb Jahren gebaut. Die Zimmer hatten beinahe Hotelcharakter. Da die ersten Radfahrgruppen Torgau noch in der späten Mittagszeit erreichten, war nun Gelegenheit die Marienkirche mit dem Grab und Epitaph von Katharina von Bora, den Marktplatz mit dem Rathaus und auch das Schloss Hartenfels mit seinen verschiedenen Ausstellungen zu besuchen. Für Schüler ist auch hier der Eintritt frei. Die Marienkirche ist nahezu noch in ihrer Gestalt des 16. Jahrhunderts erhalten. Gerade beherbergte sie eine Ausstellung zur 500-Jahrfeier des evangelischen Gesanggutes. Katharina von Bora war am Ostersonntag des Jahres 1523 - zusammen mit elf weiteren Nonnen - die Flucht aus dem Kloster Nimbschen, das im Amt Torgau eigenen Grundbesitz aufwies, gelungen. Nach Ostern reisten alle Nonnen von Torgau nach Wittenberg. Im Rat der Stadt Wittenberg fanden sie bis auf Katharina heiratswillige Ehemänner. So fragte Katharina schließlich bei Martin Luther nach, ob dieser sich eine Ehe mit ihr vorstellen könne. Luther willigte ein und im Juni 1525 konnte in Wittenberg die Hochzeit gefeiert werden. Nach und nach wurden der Familie im Lutherhaus sechs Kinder geboren. Der älteste Sohn wurde von Wittenberg aus zur Schule nach Torgau geschickt, kam jedoch 1543 nach Wittenberg zurück. Katharina erlebte nach dem Tod ihres Gatten schwierige und unruhige Zeiten in Wittenberg. Der Schmalkaldische Krieg war ausgebrochen. 1552 trat noch die Pest in Wittenberg hinzu, sodass auch die Wittenberger Universität nach Torgau verlagert wurde. Einige Monate später floh auch Katharina mit ihren beiden jüngsten Kindern nach Torgau, verunglückte jedoch kurz vor der Stadt. Zwar fand Katharina in Torgau Zuflucht und erlebte noch die Verlobung ihres zweitältesten Sohnes und den 18. Geburtstag ihrer jüngsten Tochter, verstarb jedoch drei Monate später am 20. Dezember 1552 an den Folgen des Unfalls. Sie liegt in der Marienkirche begraben. Nach dem Besuch der Marienkirche schloss sich ein kleiner Stadtrundgang über den Marktplatz durch die verschiedenen Gassen an. In unmittelbarer Nähe zum Marktplatz liegt die Katharina-Luther-Stube, der Ort, an dem Katharina mit ihrer Familie in Torgau Zuflucht fand. Danach folgte ein Besuch der verschiedenen Ausstellungen im Schloss Hartenfels. Hier wurde in DDR-Zeit das Märchen von Dornröschen gedreht. Filmkulissen und Requisiten ließen sich erproben. Das Renaissanceschloss selbst wurde im 16. Jahrhundert von Kurfürst Johann Friedrich dem Großmütigen (1503-1554) auf einer mittelalterlichen Burganlage errichtet. Die Schlosskirche wurde 1544 persönlich von Martin Luther geweiht. Sie ist zum Vorbild für zahlreiche protestantische Sakralbauten geworden. Den Höhepunkt unserer Besichtigungstour bildeten die aktuelle Ausstellung „Mut und Ohnmacht. Justizunrecht. Diktatur. Widerstand“ und die multimediale über drei Etagen verteilte Ausstellung zur Geschichte der Burg- und Schlossanlage.
Die aktuelle Ausstellung thematisierte das Unrechtssystem in der DDR und zeigte sowohl Fotos von den jugendlichen Gefängnisinsassen als auch von deren Wärtern. Widerstand gab es schon in der Anfangszeit der DDR vereinzelt von Oppositionellen, die, wenn sie nicht flüchten konnten, häufig im DDR-Knast landeten. Das Schloss Torgau mit seinen mittelalterlichen Gefängnisanlagen spielte hier eine sehr unrühmliche Rolle. Aus den Fenstern der Ausstellung heraus ließ sich das Hochwasser an der Elbe betrachten. Die Anleger für eine Flussfahrt auf der Elbe standen schon seit Tagen unter Wasser. Torgau selbst war jedoch durch die hohen Ufermauern vom Hochwasser nicht betroffen. Nach dem Abendessen und der Abendrunde verbrachten die meisten Schüler den Abschlussabend in der Stadtmitte, aber auch hier schlossen die Lokale schon sehr früh.
Freitag, 20. September: Rückfahrt
Das Frühstück am Morgen begann um 7.30 Uhr. Alle Schüler waren pünktlich, denn heute ging es mit dem Zug zurück nach Hildesheim. Diese Zugfahrstrecke ist nicht unkompliziert und erforderte zusammen mit den Fahrrädern und dem Gepäck ein mehrmaliges Umsteigen. Die S-Bahn, die von Torgau nach Leipzig fuhr, startete mit einer Verspätung von etwa einer halben Stunde. Heute endete der Zug im Hauptbahnhof in Leipzig, sodass der Bahnhof in Leipzig Tief noch erreicht werden musste. Mit der nächsten S-Bahn ging es von Leipzig nach Halle. Hier hatten wir mehr Glück, denn der Zug von Halle nach Goslar fuhr auf dem Nachbargleis und es blieb sogar noch Zeit für einen Kaffee am Hauptbahnhof in Halle. Gegen Mittag schließlich fuhr der Regionalexpress, der uns durch Sachsen-Anhalt und Thüringen am Rande des Harzes nach Goslar brachte. Auch dort hatten wir Glück, denn der Enno in Richtung Hildesheim fuhr ebenfalls auf dem Nachbargleis. Schwierig war es lediglich, alle Fahrräder in den Zug zu bekommen. Eine geeignete Aufteilung der Fahrräder hatte sich jedoch bereits eingespielt. Hier endlich wurden nicht nur die Zugfahrkarten, sondern auch die Fahrradkarten vom Schaffner kontrolliert, die in Niedersachsen - im Gegensatz zu den zuvor befahrenen Bundesländern - benötigt wurden. Mit einer Verspätung von nicht einmal fünf Minuten trafen wir wohlbehalten am Freitagnachmittag im Hauptbahnhof von Hildesheim ein. Eine anstrengende Zugfahrt lag hinter uns, aber auch einige schöne Tage des gemeinsamen Radpilgerns auf den Spuren von Martin Luther.
Martin Strauß