Latinitas in motu 2023/24
„Latinitas in motu“ betritt Senecas Gedankenwelt
War Seneca ein Philosoph oder ein Psychologe und Therapeut?
Alle 14 Tage (dienstags, 19:00 Uhr) trifft sich die Latinitas im Gebäude am Domhof, um sich mit einem lateinischen Schwerpunktthema zu befassen, zu übersetzen und zu diskutieren. In Schuljahr 2023/24 hieß unser Thema: „Seneca – Philosoph oder Psychologe und Therapeut?“ Wir überlassen es dem Leser, selbst zu einer Entscheidung zu kommen.
I Wir, die Mitglieder der Latinitas in motu, haben uns der Lektüre des Autors Seneca genähert mit mehr oder weniger verschüttetem Schulwissen, da gehörte Seneca in die Schublade der Philosophie, genauer: der stoischen Philosophie. Bekannt waren uns auch Berichte in den Medien über psychische Defizite bei uns heute wie Gelassenheit, innere Ruhe, die dort auch als stoische Ruhe bezeichnet wird.
Zu den anfänglich vorhandenen und dann allmählich parallel zur Lektüre wachsenden Kenntnissen über die stoische Philosophie gehörte Folgendes: Als höchstes Ziel im menschlichen Leben sieht die philosophische Schule der Stoa, ebenso wie die anderen philosophischen Strömungen der Zeit, die Eudaimonia: Glückseligkeit / Glück. Doch in der Konkretisierung der Eudaimonia geht die Stoa einen ganz speziellen Weg.
Eudaimonia hat für einen Stoiker nichts mit glücklichen Ereignissen oder günstigen äußeren Gegebenheiten wie Reichtum, Macht, Gesundheit usw. zu tun. Denn das Erstreben dieser und anderer äußerer Gegebenheiten mit dem Ziel der Glückseligkeit verläuft häufig nach dem Muster: Begehren – Misserfolg – Enttäuschung – Trauer und Zorn, um dann erneut zu beginnen. Dieser Aufschaukelungsprozess führt allmählich zu starken Emotionen, den Leidenschaften („Leiden“ im ursprünglichen Sinn wie Qualen), die dauerhaft Besitz von der ganzen Person ergreifen, also zu einer psychischen Krankheit. Die Stoiker bezeichnen diese starken Emotionen, die den Menschen unglücklich machen, als Pathe (griech.) bzw. Affekte (lat.).
Ziel der Stoiker ist deshalb die Apatheia (nicht zu verwechseln mit Apathie): Freiheit von Leidenschaften. Verbunden ist sie mit der tranquillitas animi, einer unerschütterlichen inneren Ruhe, Gelassenheit, der sogenannten stoischen Ruhe. Die vier Hauptleidenschaften, denen alle anderen Leidenschaften zugeordnet werden, sind Begierde - Furcht, Lust – Schmerz. Sie müssen in zähem Ringen mit äußeren Verlockungen, mit den von ihnen ausgelösten Trieben und einsetzenden Affekten überwunden und möglichst völlig ausgemerzt werden. Die zentrale Rolle bei der Überwindung der Leidenschaften hat der Logos / die ratio / die Vernunft des Menschen. Sie entscheidet, ob einem Trieb zugestimmt wird, ob er also zugelassen werden soll oder nicht. Ein Fehlurteil kann dazu führen, dass eine innere Erregung wächst und zu einem nicht mehr kontrollierbaren Affekt wird.
Der tiefere Grund dafür, auf dem Weg zur Eudaimonie äußere Güter erst gar nicht anzustreben, sondern stattdessen zusammen mit der Apatheia ein anderes Ziel zu verfolgen, ergibt sich aus den folgenden Überlegungen. Bereits der Schulgründer Zenon (ca. 330 – 260) hatte als Ziel ausgegeben, nur das anzustreben, was erreichbar, verfügbar ist, was in unserer Macht steht. Die äußeren Dinge stehen schon deshalb nicht in unserer Macht, weil sie vorrangig den Prozessen der Natur (Werden, Vergehen) und dem Schicksal unterworfen sind, d.h. sie werden, so die Überzeugung der Stoiker, von der das gesamte Geschehen in der Natur lenkenden Vernunft (Logos, ratio) determiniert, bestimmt. Konsequenz: Das, was für uns nicht erreichbar, beeinflussbar ist, soll uns gleichgültig sein. Die Vergleichgültigung der äußeren Dinge führt bzw. soll zu einer Haltung der Bedürfnislosigkeit ihnen gegenüber führen.
Dagegen ist erreichbar, verfügbar und in unserer Macht, was Natur und Determination uns übrig lassen und damit überlassen. Das ist nach Überzeugung der Stoiker die Psyche: Seele bzw. der animus: Geist. Ihre bzw. seine Lenkung ist Aufgabe des Logos. Für die richtige Gestaltung der Psyche mit Wertvorstellungen und deren perfekte Umsetzung im Verhalten gegenüber anderen Menschen gibt es die Bezeichnung Arete / virtus: Tugend, sittliche Vollkommenheit. Sie hat in der stoischen Philosophie den Rang des höchsten Gutes. Haupttugend in der Stoa ist die Einsicht, z.B. in den Aufbau der Natur, in die wahren Wertverhältnisse (sapientia, prudentia). Hinzu kommen, in Anlehnung an die klassischen vier Kardinaltugenden, Mäßigung, Besonnenheit in der Wahl der Dinge (modestia, moderatio), Energie beim Durchsetzen des als richtig Erkannten (fortitudo) und Gerechtigkeit für das Leben in der Gemeinschaft (iustitia).
Hinweise für das anzustrebende sittliche Verhalten ergeben sich auch aus der Beobachtung der Natur, die von der als göttlich oder auch als Gott bezeichneten Vernunft gestaltet und gelenkt wird. Die Stoiker sehen den Grundtrieb aller Lebewesen darin, gleich nach der Geburt für sich selbst zu sorgen, also in der Selbsterhaltung, Selbstfürsorge (Oikeiosis). Das „Selbst“ ist zuerst und in erster Linie nur der eigene Körper, das eigene Leben, umfasst aber bald auch Eltern, Angehörige, Freunde, Wohnort und letzten Endes, nach Entfaltung von Vernunft und sittlicher Einsicht, unterschiedslos die gesamte Menschheit. Als Richtschnur für vollkommenes Verhalten gilt die Formel „secundum naturam vivere“: gemäß der Natur leben. Mit einem solchen Leben besitzt man sittliche Vollkommenheit / Tugend und befindet sich im Zustand der Eudaimonie.
Ein besonderes Problem in der Wertelehre der Stoa ist die Entwertung der äußeren Dinge. Sie ist zwar aufgrund der angenommenen Voraussetzungen - ebenso wie die Wertung der Tugend als höchstes Gut – konsequent, sie wirkt aber nicht nur für uns heute ungewöhnlich, schwer zu vermitteln, noch schwerer zu praktizieren. Das war, wie den Texten zu entnehmen ist, auch schon in der Antike der Fall. Behilflich bei der Aneignung und Anwendung der Lehre ist mit ihrer therapeutischen Ausrichtung die Philosophie. Sie erzieht mithilfe von ständigem geistigen Training und besonderen Übungen dazu, dass auch schwer eingängige Erkenntnisse, Überzeugungen auf Dauer zu einer festen inneren Haltung werden. So werden Apatheia mit tranquillitas animi und gleichzeitig sittliche Vollkommenheit erreicht.
Die Stoiker entwickelten ihre Philosophie in den drei Bereichen der Logik (Erkenntnistheorie, Dialektik, Rhetorik), Physik (Naturlehre) und vor allem der Ethik zu einem alles umfassenden System, das im Laufe der Jahrhunderte immer detaillierter und stringenter ausgearbeitet wurde. Befähigt zu ihren Erkenntnissen glaubten sie zu sein, weil wir als Menschen Anteil an dem die Natur lenkenden Logos haben.
Hier sei kurz bemerkt, dass wir Erläuterungen zur Theorie der Stoa und zum Inhalt der gelesenen Texte durchaus nicht nur zur Kenntnis genommen haben. Wir haben das stoische Gedankengut diskutiert und sind kritisch damit umgegangen. So wurde auch festgestellt, dass der durch das Wirken des Logos hergeleitete Determinismus im Naturgeschehen nicht mit dem freien Willen des vernunftbegabten Menschen vereinbar ist. Für diesen Widerspruch gab es keine völlig überzeugende Lösung. Aber mehr als die Stimmigkeit der Gedanken stand in der Stoa das Verhalten der Menschen und seine Änderung im Vordergrund.
II Unter den Stoikern gehört Seneca mit Epiktet, einem freigelassenen Sklaven (ca. 50 -138), und Marc Aurel, einem römischen Kaiser in der Zeit von 161 bis 180,
zur jüngeren Stoa. Er stammt aus Corduba in Spanien, lebte ca. 1 – 65 und tritt historisch als Erzieher und späterer Ratgeber Kaiser Neros in Erscheinung. Von Nero ist er lange Zeit mit Geschenken überhäuft worden, er gehörte zu den reichsten Männern der damaligen Zeit und man fragt sich, wie das zusammenpasst mit seiner Philosophie, in der er für die Gleichgültigkeit, Wertlosigkeit materieller Güter und für Bescheidenheit, Bedürfnislosigkeit eintritt. Die Diskussion über diese Frage ist nicht abgeschlossen und wird vermutlich auch nie eine alle überzeugende Lösung finden.
Wir „betraten“ Senecas Gedankenwelt mit der Lektüre der ersten der 124 Epistulae morales ad Lucilium. Der Adressat des Briefes ist ein jüngerer Freund Senecas. Mit seinen philosophischen Interessen repräsentiert Lucilius ein größeres Leserpublikum der allerdings sehr schmalen römischen Oberschicht. In seinen Briefen geht Seneca auf Anfragen des Lucilius zu konkreten Ereignissen, Situationen im Alltag ein und gibt auf der Basis stoischer Philosophie, im Allgemeinen ohne viel Theorie, Ratschläge, wie man sich verhalten soll.
Die Epistel 1 beginnt mit einer Maxime an Lucilius „vindica te tibi“: „wende dich dir selbst zu, befreie dich für dich selbst.“ Das „selbst“ bezieht sich nicht nur auf die eigene Person, sondern im Sinne der Oikeiosislehre auf die gesamte Gattung Mensch. Lucilius bzw. der Leser generell, der erst auf dem Weg zur stoischen Philosophie ist, wird als noch nicht frei oder sogar als noch unfrei vorgestellt. Die Maxime am Anfang des ersten Briefes ist eine Art roter Faden, ein Leitmotiv für das gesamte Werk. Im anschließend gelesenen Brief 51 erfahren wir, was den Leser, was den Menschen unfrei macht und wovon er sich befreien muss. Es sind die voluptates, die Leidenschaften, und die fortuna mit den von ihr ausgelösten Ängsten und Erwartungen. Diese Befreiung ist nicht eine einmalige Aktion, sie braucht Zeit, sehr viel Zeit, damit sie nachhaltig ist, d.h. zum ungefährdeten Zustand der Freiheit wird. Und der Zeit, eigentlich einem unwichtigen Nebenumstand, ist deshalb der ganze Brief gewidmet. Ihre Flüchtigkeit, ihr unkontrollierter Schwund wird beklagt, kritisiert. Im zweiten Teil geht es vertiefend und zugespitzt, wie das in Senecas Briefen häufig zu beobachten ist, darum, dass die Zeit das Einzige ist, was die Natur uns von Geburt an als Lebenszeit zum Besitz gegeben hat. Wir sollen achtsam und sparsam mit ihr umgehen. Am Ende des Briefes steht passend als Mahnung eine altrömische Sentenz „Sera parsimonia in fundo“: Spät, zu spät ist / setzt die Sparsamkeit unten am Boden ein, weil dann ein Vorratsgefäß, z.B. eine Ölflasche, schon fast bis zum Boden geleert ist.
In Brief 51 geht es wie in Brief 1 zunächst nur um einen Nebenumstand, der aber wie die Zeit im praktischen Leben, wenn man auf dem Weg ist, ein Stoiker zu werden, Beachtung verdient, es ist der Aufenthaltsort. Ihn, Seneca, hatte es nach Baiae verschlagen, einen bekannten, allerdings auch berüchtigten Badeort an der kampanischen Küste nördlich von Neapel. Seneca beschreibt Baiae als einen Ort, den die Natur mit einigen Reizen ausgestattet hat, den sich aber auch der Luxus: die Verschwendungssucht zum Feiern ausgesucht hat, also eine Art Ballermann der Antike. Seneca hat diesen Ort gleich am nächsten Tag wieder verlassen. Man müsse sich einen Aufenthaltsort aussuchen, der nicht nur für den Körper, sondern auch für die eigene Moral und psychische Gesundheit förderlich sei. Und das gilt für Baiae mit seiner zur Verweichlichung einladenden lieblichen Lage und mit seinen Verlockungen zu Lüsten und Lastern gar nicht.
Lastern, Lüsten, Leidenschaften darf man nicht verfallen, man muss wie ein Soldat mit ihnen kämpfen, Krieg mit ihnen führen. Das gilt auch für die von der Fortuna ausgelösten Regungen z.B. der Angst und der Erwartung, die wie Befehle wirken. Senecas Diktion zu diesem Thema ist recht kriegerisch. In einem geradezu flammenden Aufruf fordert er zum Schluss dazu auf, Laster und Leidenschaften zu verfolgen, zu vertreiben, zu vernichten, Ziel muss die Freiheit von ihnen sein.
Geradezu nahtlos – allerdings etwas präzisierend und vertiefend – schloss sich Epistel 116 an. Wir erfahren, dass die Peripatetiker, die Anhänger der von Aristoteles gegründeten Philosophenschule, ein mittleres Maß an Affekten, also starken Emotionen, zulassen. Als Stoiker ist Seneca strikt dagegen. Affekte sind für ihn eine Krankheit des Geistes und auch nur ein mittleres Maß an Krankheit ist eben nicht gesund.
Ein weiterer Einwand eines Advocatus Diaboli gegen die stoische Position ist, dass es doch natürlich ist, also dass es von der Natur - der höchsten Instanz, auf die sich die Stoiker berufen – verursacht und gewollt ist, wenn man sich etwa nach einem Freund sehnt und wenn man weint. Auch einen schlechten Ruf in der Gesellschaft zu fürchten ist sogar anständig und ehrenhaft. Seneca widerspricht. Eine anfangs schwache Emotion kann zu einem den Menschen dauerhaft schwer belastenden Affekt wachsen. Es gilt daher, wachsam zu sein und den Anfängen zu wehren. Aber er will niemandem jegliches Vergnügen nehmen, er will nur die Übertreibung, das Fehlerhafte verhindern.
Er erklärt, die Natur hat uns ein angenehmes Grundgefühl der Freude gegeben. Das brauchen wir als Anreiz, um gelegentlich schwierigere, aber notwendige Aufgaben zu verrichten, man denke an die Beschaffung von Nahrung, Hausbau und vieles andere mehr. Jedoch dürfen wir dieses angenehme Grundgefühl nicht ohne seine ursprüngliche Funktion kultivieren und übertreiben, denn dann wird aus dem natürlichen Grundgefühl gaudium: Freude der Affekt voluptas: Lust.
Wir haben den Brief nicht ohne persönliche Stellungnahmen und Widerspruch gelesen. Prinzipiell gab es Einwände gegen die alles dominierende Stellung der Vernunft, die den emotionalen Bedürfnissen zu wenig Raum lässt. Zu erwähnen wären auch Max Webers Erwartungen an einen Wissenschaftler, er müsse mit „Leidenschaft“ bei der Sache sein. Auch Seneca weiß um Kritik an der Stoa; er kennt den Vorwurf, zu große Versprechungen zu machen und zu harte Forderungen zu stellen. Seine Antwort darauf ist, dass wir unsere Fehler zu sehr lieben und entschuldigen, als dass wir sie ablegen.
Unter den Zielen der stoischen Lehre wie Sieg über die Affekte, ihre Beherrschung, sittliche Vollkommenheit, ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur ist wohl am attraktivsten die tranqillitas animi: die unerschütterliche Seelenruhe. Ihr ist die Schrift de tranquillitate animi gewidmet. Gerichtet ist sie an einen jüngeren Freund namens Serenus. Wir haben Ausschnitte aus der Schrift gelesen.
Ausgangspunkt des Briefes ist die Bitte des Serenus an Seneca, ihm ein Mittel (remedium) gegen seine Stimmungsschwankungen (fluctuatio, motus animi) zu empfehlen. Er suche tranquillitas animi. Seneca beschreibt dieses Ziel als eine mit froher Grundstimmung ausgestattete, stabile und unerschütterlich Ruhe, er beurteilt sie als etwas ganz Großes, das in der Nähe der Götter seinen Platz hat.
Seneca gibt Serenus Ratschläge, wie er tranquillitas erreichen kann. Wichtig vorab ist Zuversicht mit Selbstvertrauen. Zu den praktischen Ratschlägen gehört, sich aus dem hektischen öffentlichen Leben zurückzuziehen, wohl aber als Privatmann eine wichtige soziale Aufgabe zu übernehmen. Er möge doch – ganz im Sinn der stoischen Oikeiosislehre - dem Staat, der Gesellschaft mit seiner Begabung, seiner Stimme und seinem Rat nützlich sein, der Jugend den rechten Weg weisen. Ferner rät Seneca zu herzlichen und verlässlichen Freundschaften, zu einer genügsamen Gestaltung des Lebens mit Beschränkung auf die natürlichen Bedürfnisse. Er solle sich auch auf die Möglichkeit von Misserfolgen einstellen, übertriebene Geschäftigkeit meiden, stattdessen immer nach ihrem Sinn fragen.
Nicht unbedingt auf der Linie dessen, was wir bisher gelesen hatten, liegen die Ratschläge Senecas am Ende der Schrift. Er rät Serenus, doch gelegentlich Rücksicht zu nehmen auf den Geist (animus), ihm also Ruhe zu gönnen, damit er sich entspannt und wieder zu Kräften kommt. Das passt nicht zu der sonst geforderten permanenten Wachsamkeit (vigilantia), dass man auf keinen Fall zu spät auf äußere Verlockungen reagiert. Ferner empfiehlt Seneca Geselligkeit mit unbekümmertem Weingenuss, der bis zur Trunkenheit führt. Zwar nennt er als Zweck dieses übermäßigen Weingenusses, ganz im stoischen Sinne, die Befreiung von der Last der Sorgen - Wein ist dann anstelle von Philosophie eine wenn auch nur für kurze Zeit wirkende Ersatztherapie bzw. -droge gegen Emotionen – und es folgt auch noch die Ermahnung, dass Mäßigung beim Weingenuss heilsam, gesund ist, dennoch stieß diese Empfehlung Senecas unter uns Lesern eher auf Befremden.
Es folgte ein Blick in die Naturales quaestiones, die wie die Briefe an Lucilius adressiert sind. Es geht darin um Fragen zur Natur. Seneca betont an vielen Stellen die ethische Relevanz der Gegebenheiten in der Physis, der Natur. So befreit die Kenntnis der Natur z.B. von Furcht. Die gelesenen Passagen sind eine Art Zusammenfassung dessen, was Seneca wichtig ist.
Er geht aus von der wiederholt gestellten Frage „Quid praecipuum in rebus humanis est?“: „Was ist vorrangig / wesentlich im menschlichen Leben?“ Nach der Aufzählung mehrerer Punkte, die uns aus anderen Zusammenhängen bekannt sind, resümiert er, ganz im Sinne seiner Maxime in Epistel 1, dass derjenige frei ist, der der Sklaverei entkommen ist, die von ihm selbst ausgeht, d.h. der Sklaverei durch die eigenen falschen Wertvorstellungen mit den sich daraus ergebenden Fehlern und Affekten. Darin besteht Freiheit, gewiss nicht gemäß dem in Rom gültigen Recht, wohl aber nach dem Recht der Natur. Danach zu leben ist ganz einfach, man braucht im Leben nicht viel; wozu unvernünftig sein und sich quälen?
Bemerkenswert ist, was für Seneca und die stoische Philosophie Freiheit bedeutet, wo sie zu finden ist und gegen wen sie erworben wird. Freiheit ist – zumindest in erster Linie, wenn nicht sogar ausschließlich ganz allein – Freiheit des Geistes, errungen wird sie in der geistigen Auseinandersetzung mit entgegengesetzten falschen Vorstellungen und Bestrebungen, den Lastern und Leidenschaften, die Geist, Seele abhängig machen und, bildhaft gesprochen, unterdrücken und knechten. Für den Körper bedeutet das: Die Unfreiheit des Körpers, der ja in stoischer Sicht nichts zu Apatheia, virtus, tranquillitas beiträgt und auch gar nichts beitragen kann, weil das allein Sache des Logos ist, hat keine Bedeutung. Der Körper, ob frei oder unfrei, ob gesund oder krank, gehört zu den gleichgültigen Dingen.
Seneca beruft sich zur Begründung seiner Vorstellung von Freiheit auf die Natur. Der Rückgriff auf die Natur, also die Verankerung einer Sache wie hier der Freiheit in der Natur, die ja vom göttlichen Logos gelenkt wird, ist im stoischen Denken die tiefstmögliche Begründung und Rechtfertigung einer Sache, eines Sachverhalts, eines Verhaltens. Dennoch fällt es schwer, zu akzeptieren, dass die Möglichkeit, eine Abhängigkeit geistiger Freiheit von körperlicher Freiheit zu sehen oder auch nur zu erahnen, wirklich völlig außerhalb des philosophischen Horizonts der Stoiker lag. Zweifel daran drängten sich auf und wurden von einigen aus unserer Gruppe vorgebracht, als wir uns kurz mit Epistel 47 beschäftigten.
Thema von Senecas Epistel 47 ist die Sklaverei und die Behandlung der Sklaven. Der Brief gilt als ausführlichste vorchristliche Stellungnahme zum Thema Sklaverei. Aus zeitlichen Gründen waren wir nicht mehr zur Lektüre des Briefes gekommen. Seneca stellt darin heraus, was alle Menschen, gleichgültig ob Freie oder Sklaven, verbindet. So sind unter anderem alle Menschen in gleicher Weise vom Schicksal abhängig und haben als vernunftbegabte Wesen, und zwar jeder einzelne, unterschiedslos gleichen Anteil an dem die Welt lenkenden Logos. Er lobt seinen Freund Lucilius, den Adressaten auch dieses Briefes, für den freundschaftlichen Umgang mit seinen Sklaven und beschreibt mit Abscheu Beispiele, wie Herren im Gegensatz zu dem, was die gemeinsame Natur nahelegt, ihre Sklaven behandeln. Seneca fordert engagiert zu einer humanen Behandlung der Sklaven auf, nicht jedoch zu ihrer Freilassung und zur Abschaffung der Sklaverei. Kritisch wurde in unserer Gruppe angemerkt, dass es in Epistel 47 aufgrund der erwähnten Gemeinsamkeiten aller Menschen doch eigentlich Anknüpfungspunkte dafür gibt, den Unterschied in der körperlichen Freiheit wenigstens zu diskutieren.
Zum Schluss galt unsere Aufmerksamkeit dem Bericht des Tacitus (AnnalenXV, 62-64) über den Tod Senecas. Zur Vorgeschichte gehört, wie von Tacitus beschrieben, das ausschweifende Leben Neros, sein Größenwahn. Es kam dann im Jahre 65 unter der Führung des C. Calpurnius Piso, eines einflussreichen Mannes aus höchstem Adel, zu einer Verschwörung gegen den Kaiser. Das Unternehmen wurde verraten, es folgte eine Serie von beispiellosen Massenprozessen und Morden. Das prominenteste Opfer war der vermutlich unschuldige, aber vorher schon in Ungnade gefallene Seneca. Er erhielt von Nero den Befehl, sich selbst das Leben zu nehmen.
Tacitus beschreibt detailliert den Prozess des gezwungenermaßen erwünschten, sich aber qualvoll über mehrere Phasen hinziehenden Sterbens. Das gilt auch für die Gespräche, die Seneca in dieser Situation mit den anwesenden Personen, seiner Frau und seinen Freunden, darunter einem Arzt, geführt hat. Auffällig dabei sind einige Parallelen zum Tod des Sokrates, die als solche spätestens bei der Erwähnung des eingesetzten Giftes bewusst werden. Bei dem Gift heißt es, dass es sich um das Gift handelt, das in Athen die zum Tode Verurteilten trinken müssen. Jeder wusste, dass das Schierling war. Zu den Parallelen gehört, dass beide das von einer ungerechten Obrigkeit verhängte Todesurteil mit einer philosophischen Haltung annehmen, beide sterben in Anwesenheit von Frau und Freunden. Ähnlich wie Sokrates ermahnt Seneca seine Frau, erinnert sie an seine Lehre, spendet eine Art Trankopfer und trinkt Gift.
Ein Reflex auf die Parallelen zwischen Sokrates und Seneca ist in der Kunst die Doppelherme des Sokrates und Seneca aus der 1. Hälfte des 3. Jahrhunderts. Die Verbindung ist aber nicht nur durch die ähnlichen Beschreibungen gegeben, wie beide gestorben sind. Beide waren der Überzeugung, dass es dem Menschen grundsätzlich möglich ist, sich von falschen Wertsetzungen zu befreien und mit der Vernunft Begierden, Triebe und Leidenschaften zu beherrschen bzw. sogar auszumerzen, so Seneca. Die Psyche und psychische Vorgänge wurden zu Gegenständen philosophischer Erörterungen. Mit Sokrates zusammen gesehen und zusammengesehen zu werden, ist selbstverständlich eine besondere Ehre.
III Bei allen Unstimmigkeiten in der stoischen Lehre und bei vielen Unterschieden zu unseren heutigen Auffassungen hat die stoische Philosophie besonders mit ihren Vorstellungen von Physis/Natur und Logos/Vernunft eine weitreichende Wirkung. Man denke an die christliche Theologie, die diese beiden Termini übernimmt. Die Physis öffnet sich dem Logos = Christus, der das durch die Erbsünde Fehlerhafte in der Physis überwindet. Wenn Kant vom gestirnten Himmel über ihm und vom moralischen Gesetz in ihm spricht, was ihn mit staunender Bewunderung erfüllt, dann meint er damit, dass die gesamte Natur den Gesetzen der Vernunft folgt: einer mathematischen Vernunft am Himmel und einer ethischen Vernunft, die den Menschen leitet.
Aktuell, interessant und eine Diskussion wert sind die Sicht der stoischen Philosophie vom Universum und der Natur auf den Menschen, seine Einbindung, sein Platz in Natur, Staat und Gesellschaft sowie die verschiedenen ethischen Ansätze, darunter der kosmologisch-theologische und der empirisch-psychologische.
IV Wir, Frau Czimmek und ich, waren uns gerade bei diesem Ausflug in die Philosophie nicht immer völlig sicher waren, welche Texte aus der fast unerschöpflichen Fülle der Möglichkeiten wir anbieten sollen und mit welchem Fokus. Umso mehr bedanken wir uns für rege, interessierte und Position beziehende Mitarbeit. Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass die Texte sprachlich – Seneca liebt Stilmittel - nicht die leichtesten waren, aber auch inhaltlich häufig nicht zu den durchsichtigeren gehörten. Seneca erwartet als Anhänger der sokratischen Methode, dass wir den Sinn selber finden.
V Thema im nächsten Schuljahr wird Vergils Aeneis sein. Das ist Dichtung, es geht um dramatisches, häufig kriegerisches Geschehen zu Wasser und zu Lande zwischen Troja und Italien unter Beteiligung von Göttern und Menschen, es geht aber auch, nicht minder dramatisch, um Gefühle in den Herzen der Akteure zwischen Liebe und Hass, ein spannendes Kontrastprogramm zum vergangenen Jahr.
Beginn ist am 6. August, einem Dienstag, wie üblich um 19 Uhr am Domhof.
Dieter Hosemann
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